Der großzügige Eisverkäufer
Neulich auf Langeoog: für jedes Kind eine Kugel Eis – wir waren gerade am Aussuchen. Da merkte ich: Mir fehlen 1,20 Euro.
Ich wollte die Bestellung abbrechen, aber der Eisverkäufer machte eine wegwerfende Handbewegung und gab mir mit einem freundlichen Nicken zu verstehen, dass alle vier Kinder ihre Kugel Eis bekommen. Ich: “Ich bringe Ihnen gleich das restliche Geld vorbei.” Er machte ein weiteres Mal eine Handbewegung nach dem Motto “Ist egal, schenke ich Ihnen auch gern.”
Großzügigkeit kommt zurück
Raten Sie mal, was ich als nächstes tat! Das, was Sie auch getan hätten, wenn Sie Ihre Ferienwohnung wie ich ganz in der Nähe gehabt hätten: Ich ging nach Hause, holte mein Geld, bezahlte die 1,20 Euro und kaufte sogleich zwei weitere Eiskugeln: für meine Frau und mich. Ich werde auf Langeoog nur bei Eiscafé Venezia (so heißt das freundliche Lokal in der Barkhausenstraße) Eis kaufen, das verspreche ich Ihnen! Und wenn ich dafür einen Umweg gehen muss, ist mir egal.
Diese nette Geste, diese 1,20 Euro haben mich zu einem Stammkunden gemacht. Wahrscheinlich kannte der Eisverkäufer den folgenden Spruch Salomos:
“Wirf dein Eis hin auf die Fläche des Wassers! – denn du wirst es nach vielen Tagen wieder finden! (Prediger 11,1) – Entschuldigung: Im Original heißt es natürlich: “Wirf dein Brot hin ?”
Was meint Salomo damit? Er meint damit, dass wir ruhig etwas geben sollen, ohne sofort einen Ausgleich, ein Ergebnis zu erwarten. (Unternehmer sprechen von “Return on Investment”.) Gemäß dem Saat-Ernte-Gesetz® bekommen wir das Gute wieder zurück. Oft später als wir denken. Darum sagt Salomo “nach vielen Tagen”. Also nicht ungeduldig sein! Oft aber bekommen wir postwendend das Gute zurück – wie der großzügige Eisverkäufer.
Der ungeduldige Ralf Lengen
Ich hatte zeitgleich die Möglichkeit, dieses Prinzip ebenfalls auszuprobieren: Nach einem Vortrag von mir wollte eine junge Dame eine Publikation kaufen, hatte aber statt der 20 Euro nur 10 Euro dabei. Ich: “Nehmen Sie es ruhig mit und geben Sie mir in einem Umschlag die restlichen 10 Euro an der Rezeption der Ferienwohnung ab.” Ich gestehe: Ich habe am nächsten Tag nachgefragt – kein Briefumschlag da. Am nächsten Tag dasselbe: kein Briefumschlag weit und breit. Doch am Nachmittag war er da! Darüber habe ich mich sehr gefreut!
Großzügigkeit kommt zurück – aber nicht immer
Als ich diese Eisgeschichte heute Abend erzählte, widersprach mir ein Mann. Großzügigkeit zahle sich nicht immer aus. So habe er ein seltenes Teil einem Kunden einfach so auf Vertrauensbasis mitgegeben. Und? Nie wieder etwas von diesem Kunden gehört. Dieser Einwand ist berechtigt! Sicherlich haben auch Sie solch eine Gegen-Geschichte zu erzählen. Ich auch! Doch das sind die Ausnahmen von der Regel. Die Regel besagt: Mit Großzügigkeit beschenken Sie nicht nur andere. Auch Sie werden beschenkt.
Arne W. -
Liegt nicht der Schlüssel gerade im Nichterwarten der Gegenleistung (und nicht im Spätererwarten)? Der Eisverkäufer ist gerne bereit, auf das Restgeld zu verzichten. Nach Ihrer Beschreibung ist er nicht berechnend auf einen späteren Gewinn bedacht (oder unterstellen Sie ihm Berechnung, z.B. kurzfristige Kundenbindung von Touristen?).
Ihre eigene Großzügigkeit stützt sich hingegen auf die erwartete spätere Bezahlung (die Sie ja auch einfordern und kontrollieren). Wie hätten Sie gehandelt, wenn die Wahrscheinlichkeit auf eine spätere Rückzahlung sehr gering gewesen wäre?
Die Frage ist also: Sagt Salomo “Sei großzügig, denn Du kannst erwarten, dass etwas zurückkommt” oder sagt er “Sei großzügig OHNE eine Gegenleistung zu erwarten – das zahlt sich irgendwann trotzdem aus” (vielleicht gar nicht materiell, sondern als Charakterstärke o.ä.).
Ralf Lengen -
Danke! Mein Vergleich war schief! Beim Eisverkäufer ging es um Großzügigkeit (er wollte das Eis im Wert von 1,20 Euro ja verschenken). Bei mir ging es nicht um Großzügigkeit (dann hätte ich z.B. die zehn Euro erlassen), sondern um Vertrauen: Ich vertraute darauf, dass die junge Dame das Geld später bringen würde.
Bei letzterem finde ich es mehr als legitim zu schauen, ob der jeweilige Partner das Vertrauen auch erfüllt. Also hier erwarte ich in der Tat eine Gegenleistung; das macht ja Vertrauen aus: Ich vertraue darauf, dass eine Person sich in Zukunft in bestimmter Weise verhält. Wenn die Person das Vertrauen nicht erfüllt / missbraucht, dann wäre es nicht gerade weise, weiter zu vertrauen.
Meint auch Salomo (und ich glaube, Sie auch): “Ein zerbrochener Zahn und ein wankender Fuß, [so ist] das Vertrauen auf den Treulosen am Tag der Not.” (Sprüche 25,19).
Zu Ihrer Frage: Wie hätte ich gehandelt, wenn die Wahrscheinlichkeit auf eine spätere Rückzahlung sehr gering gewesen wäre? ? Wenn ich der Dame überhaupt nicht vertraut hätte (besonders, wenn sie mein Vertrauen schon missbraucht hätte), hätte ich persönlich ihr nicht eine spätere Zahlung eingeräumt (Stellen Sie sich vor: Bei bestimmten kleinen Produkten verkaufe ich nur per Vorkasse!). Doch wie kann ich die Wahrscheinlichkeit überhaupt richtig einschätzen? Bei einem ersten Kontakt gar nicht! Und das macht Vertrauen auch aus! Ich muss und will etwas riskieren! Und ich kann enttäuscht werden.
So, zum Thema “Vertrauen” ließe sich noch viel sagen, aber ich höre jetzt mal hiermit auf. Nun zum Thema “Erwartung / Nicht-Erwartung bei Großzügigkeit”: Natürlich gefällt mir Ihre zweite Definition besser: “Sei großzügig OHNE eine Gegenleistung zu erwarten – das zahlt sich irgendwann trotzdem aus”. Doch zunächst spielt für Salomo das Motiv gar nicht die entscheidende Rolle. Er sagt einfach nur: Ich habe mal beobachtet, was passiert, wenn jemand großzügig ist. Und mir ist aufgefallen, er bekommt es in irgendeiner Form zurück. Vielleicht ist das dem Eisverkäufer auch aufgefallen! Ist das Berechnung? Ich weiß es nicht. Was ich weiß: Großzügigkeit nur aus Berechnung heraus ist keine Großzügigkeit. Da sind wir sicherlich einer Meinung, oder?
Susann -
Ach, jetzt hatte ich gerade einen so langen Kommentar geschrieben zum Unterschied der beiden Beispiele und tatsächlicher Großzügigkeit und Vertrauen – nun waren Sie schneller als ich und haben den “schiefen Vergleich” schon aufgeklärt Trotzdem interessantes Thema / guter Artikel