Reden hat auch seine Zeit

Salomo und ich haben hier oft genug dafür plädiert, die Klappe zu halten, zuletzt im Artikel “Beeindrucken durch Schweigen”. In der Tat: Es gibt häufiger Momente, wo ich denke “hättest du doch geschwiegen”.

Doch heute will ich werben für die zweite Hälfte des Salomo-Spruchs:

“Schweigen hat seine Zeit, und Reden hat seine Zeit.” (Prediger 3,5)

Den Anstoß gab mir der Artikel “Das feine Schweigen und seine Folgen” von Fritz Stern in seinem Buch “Das feine Schweigen” (Seite 158-173). Zunächst einmal: Auch Stern weiß um positive Beispiele für Schweigen: “Sicher gibt es so etwas wie ein edles oder heroisches Schweigen, das Schweigen, um Verrat zu vermeiden.” (Seite 159)

“Das Schweigen der Anständigen”
Doch unmittelbar nach diesem Satz kommt er zu seinem eigentlichen Thema: “Was das andere Schweigen angeht, so neige ich dem Urteil von Nadeschda Mandelstam, die in ihren Memoiren aus der Zeit sowjetischen Terrors schrieb: ‘Schweigen ist ein wirkliches Verbrechen gegen das Menschengeschlecht.’ Man könnte diesem grausamen Jahrhundert das Motto geben: Man sah das Böse nicht, man wollte es nicht sehen, wollte die Untat nicht wahrnehmen – und damit begann das Schweigen.” (Seite 160) Und auf Seite 173: “Die Passivität, das Schweigen der Anständigen waren für den Erfolg des Nationalsozialismus mindestens ebenso wichtig wie das Brüllen der Begeisterten.”

Stern präsentiert eine “Skizze des Verschweigens” in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Was hat das mit uns beiden im 21. Jahrhundert zu tun?

Aus Angst um den Job
Viel! Es gibt Momente, da sollten wir reden – und was tun wir? Wir schweigen. Warum? Nicht aus Angst um unser Leben, sondern aus Angst um unseren Job oder unseren Kunden oder unseren Freund. Bitte nicht! Dieses “feine Schweigen” gibt dem Unrecht eine Chance. Beispiele gefällig? Der Kollege wird gemobbt – und wir schweigen. Der Kunde wird abgezockt – und wir schweigen. In der U-Bahn wird unsere Nachbarin belästigt – und wir schweigen. Zum Hinschauen gehört Mut. Und Kraft. Das wünsche ich Ihnen. Und das wünsche ich mir.

Kommentare (3)

  1. Und was ist, wenn man es im Beruf mit einem Hornochsen zu tun hat, der sowieso nicht zuhört bzw. entsprechende Warheit nicht annimmt? Soll man dann trotzdem sprechen und den “Unmut” des anderen riskieren oder doch Schweigen? Gerne breche ich das Schweigen wenn es darum geht andere zu beschützen/ zu helfen, wenn es aber darum geht mich selber zu schützen z.B. auf der Arbeit fällt es mir schwer.

  2. @Dorothea: Das Problem kenne ich – ich bin bei so einem immer unkontrolliert laut geworden und habe dafür Unverständnis und schlechtestenfalls auch Verachtung geerntet. Wenn man sich auch im Nachhinein noch über den Hornochsen ärgert, dann sollte man ihn allein und ruhig ansprechen, das hilft einem selbst am besten, finde ich. Dass derjenige sich daraufhin ändert, bezweifle ich allerdings;-)) Aber wenigstens seine Ohnmacht hat man kurzfristig ausgeschaltet.